Thomas Mann an Jürgen Ernestus
- Zeitraum
- Donnerstag, 17. Juni 1954
- Datierung
- 17.6.1954
- Empfänger:in
- Ort
Zusammenfassung
Es ist unmöglich, auf E.s gestellte Fragen, über die man sich notfalls in einem Gespräch verständigen könnte, ausführlich einzugehen. E. stelle ihn moralisch zur Rede wegen einer vor 42 Jahren geschriebenen Geschichte. Diese – ›Der Tod in Venedig‹ – gilt in USA als »klassisch«; sie ist nicht unmoralisch, sondern ein Bekenntnis, »das Produkt eines denkenden Gewissens und pessimistischer Wahrheitsliebe«. Das Verhalten Aschenbach-Tadzio könne man nicht mit »pervers« abtun, es ist »nicht ordinäres Begehren, sondern Berauschtheit durch das Schöne, der zerstörende Einbruch des ›fremden Gottes‹ in ein formvoll gefaßtes, auf Vorbildlichkeit und Repräsentation gestelltes, ›würdig‹ gewordenes Leben«. ›Der Tod in Venedig‹ sei nicht »verantwortungslos«; er sei sogar bis zur Askese verantwortungsbewusst. Im Übrigen sei die Erzählung eine Dichtung, die durch Fragen, die E. stellt, nicht gemessen werden kann. Diese seien »trockene amusische Pedanterie«. – Wie er über die Verantwortung denke, möge E. daraus ersehen, dass er wie E. die Äußerungen eines Wissenschaftlers über das Verhältnis der Wissenschaft zur Politik erbärmlich finde. »Die H-Bombe und der ganze Mißbrauch heilig zu haltender letzter Natur-Ereignisse zur Herstellung von Vernichtungswaffen ist ein lächerlicher Unfug.«
