Thomas Mann an Redaktion ›L’Express‹, Paris

Zeitraum
Dienstag, 21. September 1954
Datierung
o.D. [lt. TGB 21.9.1954]
Empfänger:in
Ort

Zusammenfassung

[›L’Express‹ griff Thomas Manns Äußerung in seiner Rundfunksendung vom 10. Mai 1945 auf und fragt ihn nun, wo wir neun Jahre später stünden, wie es um die Wiederaufrüstung und die Chancen einer wirklichen französisch-deutschen Wiederversöhnung stehe.] Es falle ihm nicht leicht, diesen Brief zu beantworten, aber schwerer falle es ihm, ihn nicht zu beantworten. Es sei unleugbar, dass sich von den Hoffnungen des Jahres 1945 kaum eine erfüllt hat. Durch eine unglückselige Weltkonstellation sei die Menschheit in zwei Lager gespalten, worauf die Spaltung Deutschlands nur ein um so grelleres Licht werfe. Er wolle sich auf die politische Temperatur der Bundesrepublik beschränken, denn hier lägen die Quellen der deutschen Macht, hier sei die deutsche Schwerindustrie. Nur Bonn könne den Beitrag zur Sicherung des Friedens leisten. Seit 1949 habe das deutsche »Wirtschaftswunder« begonnen, das aber seinen Namen nur bedingt verdiene. – Eine andere Erscheinung sei eingetreten, die fast etwas von einem Wunder habe: die Entwicklung der sozialdemokratischen Partei, die tatsächlich aus der Vergangenheit und ihrem Versagen etwas gelernt habe und klüger und entschlossener daraus hervorgegangen sei. Geht auf deren Friedenspolitik ein, wozu auch die Versöhnung mit Frankreich gehöre. Besonders die kulturelle Anziehungskraft dieses Landes wirke stark auf die Jugend. Er habe vor fünf Jahren in einer Rede der Zeit ein kleines Loblied gesungen. Sie sei imstande, die Menschheit in einem humanen Sozialismus zu versöhnen: »Der Himmel schenke uns Zeit!«

Erwähnungen

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