Thomas Mann an Gabriele Reuter
- Zeitraum
- Samstag, 28. März 1903
- Datierung
- 28.3.1903
- Empfänger:in
- Ort
Zusammenfassung
Dankt ihr für die ihm übersandte Nietzschebüste und ihr Anerbieten, falls notwendig, sich bei ihr Rat, Aufmunterung oder Kritik zu holen. »Ich habe dergleichen nötig. Niemand weiß, wie nahe am Rande der Großen Müdigkeit ich oftmals lebe.« Dies hänge mit seiner oft wechselvollen Gesundheit zusammen; oft fühle er Arbeitsfreude und die Lust zu reden geradezu in sich pochen, dann erfülle ihn wieder Schlaffheit, Überdruss und Selbstverachtung. Hinzu komme die Neigung, »während ganzer Perioden meine Kräfte an absorbierende Erlebnisse rein menschlicher Natur zu verausgaben«, wobei er nicht wisse, ob er sich dieser unbedenklich überlassen könne oder sie nach Kräften unterdrücken müsste. »Für das erstere spricht, daß das, was ich bislang gemacht habe, ohne diese Erlebnisse nicht hätte entstehen können. Aber vielleicht wäre statt dessen Schöneres und – Lustigeres da. Vielleicht auch Objektiveres.« Glaubt, dass die Objektivität bei ihm etwas sehr Scheinbares, Oberflächliches und Uneigentliches sei und dass er eigentlich einer der Subjektivsten sei, der als Künstler durchaus unter die Lyriker und Schauspieler gehöre. »Es gibt ja eine Objektivität im Subjektiven, ein Wachbleiben in der Leidenschaft, das einem erlaubt, sich weit, bis zur Selbstentfremdung weit im Erleben vorwärts, abwärts zu wagen.« ›Tonio Kröger‹ sei eine sanft-ruhige, wohlmeinende und ein wenig sentimentale Figur. Und in ›Fiorenza‹, woran er gerade arbeite, sei ein »harter, haßerfüllter, machtgieriger, asketischer Priester« dargestellt. »Auch das ist eine subjektive Figur, auch das bin ich, weit von Hause, wie Sie sehen, aber sicher in dem Bewußtsein, dass mir, wenn die Sache auf die Beine gestellt ist, der Heimweg freiliegen wird […]«
