Thomas Mann an Ida Boy-Ed
- Zeitraum
- Freitag, 19. August 1904
- Empfänger:in
- Ort
Zusammenfassung
Bittet um Aufklärung, wer ihn zur Lesung in Lübeck eingeladen habe, da nach ihrem Brief kein Vorstandsmitglied in der betreffenden Sitzung anwesend gewesen sein soll. Die Einladung der »Litterarischen Gesellschaft, Lübecker Leseabend vom Jahre so und so« sei von Herrn Bade unterzeichnet worden. Er habe zugesagt und, was er für einen besonders raffinierten Schachzug halte, kein Honorar verlangt; er habe dafür einen tiefbewegten Dankesbrief erhalten. Dankt für die Einladung, bei ihr zu wohnen, hat aber auch von den Kulenkamps eine erhalten und bittet sie, sich mit dieser Familie zu einigen. Erzählt von einer seiner sehr gelungenen Kunstreisen, und zwar nach Göttingen, wo er nach der Lesung in »hochgelehrtem Kreise«, zwischen Professoren und Dozenten saß, von denen einer sogar eine Rede auf ihn gehalten habe. Lernte den »äußerst sympathischen« Jürgen Fehling dort kennen, Sohn von Emil Ferdinand Fehling, der im Gegensatz zu seinem Bruder die ›Buddenbrooks‹ mit aufrichtigem Vergnügen gelesen hatte. Kommt auf die Frage der Indiskretion zu sprechen und meint, gestützt auf ein Zitat Rousseaus, dass sie auch gegenüber anderen gerechtfertigt sei, wenn sie sich auch gegen den Autor selbst richte. Er unterscheide sich aber von den Schriftstellern, die mit ihrer Kunst weniger auf Erkenntnis als auf »Schönheit« aus seien, und zu diesen gehöre sein Bruder Heinrich; über dessen letzten Roman [›Die Jagd nach Liebe‹] habe er sich beinahe mit ihm überworfen. Geht in der Verurteilung der Bücher seines Bruders so weit, dass er sie nicht nur für schlecht hält, sondern dass ihm daraus »eine ästhetisierende Grabeskälte [...] entgegenweht«, die ihn empöre. Ist sich allerdings bewusst, dass man auch ihn zu den »kalten Künstlern« rechne, womit zuzugeben sei, dass eine »gewisse natürliche Familienähnlichkeit trotz aller tiefen Gegensätze zwischen meinem Bruder und mir [besteht]«. Man dürfe nicht bezweifeln, dass er als Künstler »außerordentlich stark empfindet. Ich habe es aus seinem eigenen Munde, dass er an gewissen Stellen der ›Herzogin von Assy‹ Thränen vergossen hat [...]« Sie tue ihm unrecht, wenn sie seine Entwicklung nicht weiter verfolgen wolle.
