Thomas Mann an Kuno Fiedler
- Zeitraum
- Samstag, 12. September 1942
- Datierung
- 12.9.1942
- Empfänger:in
- Ort
Zusammenfassung
Bedauert, F. auf dessen Brief vom 10.4. noch nicht geantwortet zu haben; er habe mehr denn je zu tun gehabt. Eben sei seit dieser Zeit F.s Buch ›Schrift und Schriftgelehrte‹ in seinen Händen, das wohl kaum »einen aufmerksameren und empfänglicheren Leser« gehabt habe als ihn. »Ich war sehr interessiert, sehr angetan und hatte den Eindruck eines mutigen, seiner gesunden Vernunft frohen und zeitwichtigen Werkes.« Setzt sich ausführlich mit F.’s theologischen Thesen auseinander, denkt an den Joseph-Roman, in dem von vorderasiatischen mythologischen Einschlägen im Christentum gesprochen wird, die F. nicht gelten lassen will. Ebenso widerspricht er F.s Meinung von Martin Niemöller und von dessen Märtyrertum: »Da ist doch einer im vollen Bewußtsein dessen, was ihm bevorstand, den Weg des Kreuzes gegangen, wie wohl seit Jahrhunderten keiner mehr.« In F.s Kernsatz von der »Religion – gerichtet auf Umwandlung des Lebens und der Wirklichkeit mit Hilfe und im Sinne göttlicher Kräfte«, sieht er eine Verwandtschaft mit Paul Tillichs christlichem Sozialismus, oder mit einem ihm lieberen Ausdruck: der »Religion des Heiligen Geistes, die aber freilich nur Religiosität sein kann und nicht positive Religion«. Darüber habe er sich auch mit seinem Schwiegersohn Borgese auseinandergesetzt; ihm sei eine Religiosität »recht und angenehm, die das über-biologische Wesen des Menschen anerkennt, im Menschen den Punkt sieht, wo die Natur ins Transzendentale, Geistige mündet, seine Verpflichtung auf das Absolute proklamiert und ihn anhält, nach Vollkommenheit, d.h. Vervollkommnung zu streben – eine humanistische Religiosität also, oder ein religiöser Humanismus, dem die Ehrfurcht vor dem Rätsel und der Würde zum Grunde liegt«. Fragt sich, ob die Masse der Menschen damit auskommt. Glaubt, im Gegensatz zu F., dass das Bedürfnis nach Form und mythischer Bindung im Menschen stark sei, und sobald das Religiöse sich wieder als positive Religion etabliere, sei man wieder an der gleichen Stelle. Damit äußere er aber keine reaktionären Wünsche, sondern nur menschliche Befürchtungen. »Ihr Buch als Ganzes ist vorzüglich und eingegeben von dem Gehorsam gegen das Gebot der Weltstunde, der für mich das A und O der Religiosität ist.« In seinem Vortrag über ›Joseph und seine Brüder‹ gestehe er, dass er nie gewusst habe, ob er sich einen religiösen Menschen nennen dürfe. »Ich bin es höchstens dann, wenn Religiosität *Aufmerksamkeit* und *Gehorsam* ist: Aufmerksamkeit auf innere Veränderungen der Welt [...], Gehorsam, der nicht säumt, Leben und Wirklichkeit diesen Veränderungen anzupassen und so dem Geiste gerecht zu werden« [s. Brief an Giuseppe Antonio Borgese vom 6.9.1942 / Reg. 42/336].
