Thomas Mann an Leonor Goldschmied
- Zeitraum
- Donnerstag, 11. April 1912
- Datierung
- 11.4.1912
- Empfänger:in
- Ort
Zusammenfassung
Kann sich als Mitglied des Zensurbeirates nicht entschließen, den Protest G.’s gegen das Verbot einer öffentlichen Lesung seiner anarchistischen Tragödie zu unterschreiben. Begründet seine Ablehnung damit, dass ein Werk, das Gewalt zu predigen beabsichtige, nur in stiller, einsamer Lektüre, aber gewiss nicht im öffentlichen Saale, vor einem neugierigen, halb verstehenden, geistig unvorbereiteten Zufallspublikum »ganz reine Wirkungen erziele«. Bezieht sich auf sein eigenes, im Augenblick entstehendes Werk, »in dem erzählt wird, wie ein alternder, vornehmer Künstler sich auf Reisen in Ober-Italien, in eine unerlaubte Neigung zu einem Knaben verstrickt und durch dieses Erlebnis in seiner Würde vollkommen gebrochen wird«. Er würde sich nie einfallen lassen, diese »mit größter Delikatesse mit dem tiefsten moralischen Ernst« behandelte Geschichte auf einem öffentlichen Podium vorzutragen. G.’s Fall liege nicht viel anders. Die Polizeibehörde halte die öffentliche Lesung für so indiskutabel, dass sie das Werk nicht einmal dem Zensurbeirat vorgelegt habe. Betont, dass er ein prinzipieller Gegner der Zensur sei und bei seinem Beitritt in den Beirat dem Polizeipräsidenten gegenüber kein Hehl daraus gemacht habe. Tröstet G., dass dessen Werk gedruckt sei und, »dank Censur, nun sogar eine interessante Leibbinde erhalten habe«.
