Thomas Mann an S.M. Levitas, ›New Leader‹, New York
- Zeitraum
- Freitag, 18. Januar 1946
- Empfänger:in
- Ort
Zusammenfassung
Dankt für den Artikel von Bertrand Russell, den er als regelmäßiger Leser von ›The New Leader‹ schon kenne, der aber auch zweimal gelesen werden könne. Begründet seine Absage, in eine Diskussion über Russels Thema einzutreten: Er stimme völlig mit Russells Meinung überein, man solle die Siegermächte veranlassen, Deutschland zu helfen und nicht in Mitteleuropa einen Flecken des Elends und der Krankheit zu hinterlassen. Es sei für ihn als geborenen Deutschen ein sehr delikates Thema, und er möchte nicht in den Verdacht eines unangebrachten Patriotismus geraten. In diesem privaten Brief wolle er offen gestehen, dass er nach direkten und indirekten Berichten keineswegs mit der gegenwärtigen moralischen Verfassung des deutschen Volkes einverstanden sei. Er fühle tief und schmerzlich seinen eigenen Anteil an der unermeßlichen Schuld, die die Deutschen als Nation auf sich geladen hätten; aber dieses Gefühl der Verantwortung scheine in Deutschland nicht zu existieren, soweit er sehe und höre. Die Deutschen hätten eine seltsame Begabung, das Mitleid der Welt auf sich zu lenken. Es komme hinzu, dass die prodeutsche Propaganda von den einheimischen Faschisten mit besonderem Eifer betrieben werde. Und ihre Absichten seien weit entfernt von denen Bertrand Russells.
