Thomas Mann an Lord Inverchapel, Britischer Botschafter in Washington
- Zeitraum
- Samstag, 17. August 1946
- Datierung
- 17.8.1946
- Empfänger:in
- Ort
Zusammenfassung
Beantwortet des Botschafters Brief vom 12. August mit folgender Erklärung: Der britische Generalstaatsanwalt Sir Hartley Shawcross, K.C. , habe in seiner Schlußrede vor dem Internationalen Tribunal des Kriegsverbrecherprozesses in Nürnberg folgendes gesagt: Vor Jahren schon habe Goethe von dem deutschen Volke gesagt, dass eines Tags das Schicksal sie schlagen werde, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind, usw. Die englische Presse habe darauf hingewiesen, dass diese Worte nicht von Goethe stammten, sondern aus dem Roman ›Lotte in Weimar‹ und dem Monolog, in dem er sie Goethe in den Mund legte. Im technischen Sinne habe die Presse recht, was aber nicht bedeute, dass der Generalstaatsanwalt Unrecht habe. Zwar seien die zitierten Worte wörtlich nicht in Goethes Schriften oder Gesprächen zu finden, aber sie seien streng in seinem Geiste erfunden und formuliert, und wenn Goethe sie auch niemals gesprochen hatte, hätte er es aber ebensogut tun können. – Der erwähnte Monolog enthalte viele Äußerungen Goethes, die er tatsächlich getan hat und aus dichterischen Gründen leicht geändert und variiert würden. Verweist auf einen ›Spruch in Reimen‹, in dem Goethe von der »frommen deutschen Nation« sagte, dass sie sich erst erhaben fühle, wenn all ihr Würdiges verspielt sei. So hätte der Dichter auch die Worte sagen können, die ihm vom Generalstaatsanwalt zugeschrieben wurden. In einem höheren Sinn waren diese Worte tatsächlich seine eigenen. – Der britische Botschafter könne von dieser Erklärung jeden ihm beliebigen Gebrauch machen.
